Frühstück bei…

In Zukunft mehr Geschichte

Frühstück bei … Karina Kögel-Renken ist Vorsitzende des Arbeitskreises Muna Lübberstedt

Karina Kögel-Renken möchte sich nach dem Ende ihrer Berufszeit noch mehr für die Geschichtsarbeit engagieren.ULF BUSCHMANN

Axstedt/Lübberstedt. Karina Kögel-Renken zeigt, wo es langgeht. Hin und wieder sicherlich im übertragenen Sinne. An diesem Morgen geschieht es wirklich. Mit einem freundlichen Lächeln kommt die Vorsitzende des Arbeitskreises Muna Lübberstedt ihrem Besuch entgegen. „Vorne hätte Ihnen keiner geöffnet“, sagt sie. Das alte und ein wenig unübersichtliche Haus, in dem schon die Großeltern von Karina Kögel-Renkens Mann lebten, ist nett, verwinkelt und strahlt einen besonderen, heimeligen Charme aus.

Im Flur fallen die zahlreichen Emailleschilder auf. So ging Werbung früher – von Waschmittel über Automarken bis zu Hochprozentigem. Während Karina Kögel-Renken die Jacke ihres Besuchs über einen Bügel hängt, gibt sie zu: Dies seien nicht alles originale Emailleschilder. „Aber schön sind sie trotzdem.“ Auch ein Klavier steht da an der Wand. Allerdings klärt Karina Kögel-Renken später auf: Das Instrument ist gar keines, sondern die wohlsortierte Hausbar.Schulleiterin in Lilienthal

Es geht zum Frühstück in den Wintergarten mit weitem Blick ins winterliche Axstedt. Hin und wieder rauschen die Regio-S-Bahn von oder nach Bremerhaven, ein Regionalexpress oder ein Güterzug vorbei. Familie Kögel-Renken wohnt knappe 100 Meter von der Bahnlinie zwischen Bremen und Bremerhaven entfernt. „Früher klapperten hier die Gläser im Schrank“, sagt sie.

Aber nicht nur der Geräuschpegel der Bahnen hat sich verändert. Im Dritten Reich gehörte es zu den Kriegsanstrengungen der Nazis, sogenannte Luftmunitionsanstalten (Muna) und Lufthauptmunitionsanstalten aus dem Boden stampfen zu lassen – Lübberstedt war eine der Lufthauptmunitionsanstalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen zunächst die Amerikaner die Muna in Lübberstedt, am 2. Mai 1956 übernahm die neu gegründete Bundeswehr. Diese blieb bis Anfang 2010.

Ende Januar 1996 wurde aus dem losen Zusammenschluss des Arbeitskreises Muna förmlich ein Verein – vor allem deshalb, um das Buch „Lw 2/XI – Muna Lübberstedt – Zwangsarbeit für den Krieg“ zu veröffentlichen, das inzwischen vergriffen ist. Aus der ursprünglichen Absicht, den Verein später wieder aufzulösen, wurde nichts. Im Gegenteil, freut sich Kögel-Renken, der habe sich zu einem festen Bestandteil der Dorfgemeinschaft entwickelt; in Axstedt genauso wie in Lübberstedt. Die inzwischen 63 Mitglieder profitieren von zahlreichen Vernetzungen, wie zum Beispiel mit der Kirchengemeinde Bramstedt, zu der Axstedt gehört. Wenn Kögel-Renken über diese Entwicklung spricht, strahlt sie förmlich. Der Kaffee und ihr Brötchen auf ihrem Teller werden dabei zur Nebensache. „Der Verein hat eine neue Basis“, sagt die Vorsitzende. Die Mitgliederstruktur habe sich erheblich verjüngt. Und: „Bei uns fragen verstärkt Familien nach einer Mitgliedschaft.“ Deshalb werde die Beitragsstruktur entsprechend umgestellt. „Mir ist es wichtig, dass das Geschehen bewahrt wird“, betont Karina Kögel-Renken, „unser Motto ist ja ,Erinnern gegen das Vergessen’.“ Dies müsse generationsübergreifend stattfinden. Deshalb sehne sie den Tag herbei, um nach dem Ende der Corona-Pandemie Jung und Alt des Vereins zusammenzubringen.

Die Frage, ob die Position als Vorsitzende manchmal so etwas wie eine Bürde ist, verneint Karina Kögel-Renken entschieden. Dies sei eher der Fall, wenn sie auf die wenige Zeit schaue, um sich noch mehr für den Verein ins Zeug zu legen. Hintergrund: Karina Kögel-Renken ist Leiterin der Integrierten Gesamtschule (IGS) Lilienthal. Sie verspricht denn auch: „Wenn ich in einigen Jahren in den Ruhestand gehe, kann ich mich richtig hineinknien.“

Zu tun gibt es in der Tat noch einiges. Nicht nur die Vorsitzende, sondern viele Mitstreiter im Verein und außerhalb wünschen sich, die Muna-Geschichte weiterzuerzählen: Was geschah dort nach 1945? Dafür träumt der Verein von einem „Minimuseum mit Schulungsraum“. Denn Karina Kögel-Renken weiß: Die Geschichte der Muna ist längst nicht zu Ende erzählt, vieles ist noch im Dunkeln. Immerhin konnten die Autoren des Buchs über die Muna ans Licht bringen, dass es auch in Lübberstedt und der Region unter den Nazis Zwangsarbeit gab.

Daran wird jeweils am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht 1938, am Mahnmal erinnert, das seit 2019 am Tor der ehemaligen Muna steht. Dieses hatten Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen (BBS) Osterholz-Scharmbeck schon in einem längeren Prozess entworfen. Dafür gab es Anfang Dezember den Schülerfriedenspreis des Landes Niedersachsen. Für Karina Kögel-Renken ist dies das beste Beispiel für eine funktionierende, generationsübergreifende Erinnerungsarbeit. Da fehlt aus Sicht der Vorsitzenden nur noch eines: Die Muna solle im Rahmen der Dorfentwicklung Hambergen Nord „eine Rolle spielen“.

Gedenken an Ilonka Pfeffer

Gedenken an jüdische Zwangsarbeiterin

Historiker Karsten Dölger will mit Tafel auf dem Alten Friedhof in Plön an ein Stück Zeitgeschichte erinnern

VON DIRK SCHNEIDER

Budapest und der Erinnerungs- stätte Yad Vashem Jerusalem. Zudem befragte er auch Zeit- zeugen.

2 Die Ungarin Ilonka Pfeffer überlebte KZ und Arbeitslager, starb aber kurz nach der Befreiung an Tuberkulose.

Das Ergebnis: Ilonka Pfeffer wurde am 12. November 1920 in Kisvárda (Jiddish „Kleinwar- dein“) in Ungarn geboren. Sie erlernte den Beruf der Schnei- derin. Nach der Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehr- macht wurde ein Ghetto für die Region eingerichtet. Kisvárda selbst wies damals eine jüdi- sche Gemeinde mit 3770 Mit- gliedern auf. Die Einweisung aller Juden in das Lager begann am 16. April 1944. Etwa 12 000 Menschen wurden dort schließ- lich zusammengepfercht. Nach sechs Wochen wurde das Ghet- to aufgelöst. In einem von zwei Transporten wurde auch Ilonka Pfeffer nach Auschwitz depor- tiert. Auf der berüchtigten

Rampe ist sie wegen ihres gu- ten Gesundheitszustandes den „Arbeitsfähigen“ zugeordnet worden, was sie vor der Gas- kammer bewahrte.

Ende August wurde sie mit 500 weiteren Frauen zur Zwangsarbeit in die Rüstungs- fabrik Muna Lübberstedt, ei- nem Außenlager des KZ Neu- engamme in der Nähe von Bre- merhaven, „selektiert“. Durch die ätzenden Dämpfe bei der Munitionsherstellung zogen sich viele der Frauen schwere Atemwegserkrankungen zu. Als im April 1945 die Front nä- her rückte, wurden die Zwangsarbeiterinnen über Cuxhaven mit Schuten nach Brunsbüttel verschleppt. In Ei- senbahnwaggons fuhr die Gruppe in Richtung Lübecker Bucht. Weil die dort ankernde „Cap Arcona“ bereits überfüllt war, wurde der Zug nach Nor- den umgeleitet. Am 2. Mai 1945 beschossen alliierte Flugzeuge den Transport kurz vor Eutin. 43 Frauen starben. Am folgenden Morgen gerieten die Waggons bei Timmdorf erneut unter hef- tigen Beschuss. Die 16 Todesop-

fer dieses Angriffs wurden in Plön beigesetzt und 1960 auf die Kriegsgräberstätte nach Schleswig-Karberg umgebet- tet.

Die 320 überlebenden Jüdin- nen, die am Plöner Güterbahn- hof gestrandet waren und sich im Wald unterhalb des Parnaß versteckt hielten, hatten am 4. Mai einen ersten Kontakt zu ei- ner Einheit des britischen Mili- tärs, das Plön in den folgenden Tagen einnahm.

Wir müssen die

Geschichte wach halten;

nicht um den Finger in die

Wunde zu legen, sondern

um daraus zu lernen.

Roland Scheel,

Pastor

Die britische Truppe sorgte wahrscheinlich dafür, dass die schwerkranke Ilonka Pfeffer in der Johanniter Heilstätte in ärztliche Obhut kam, vermutet

Dölger. Da die übrigen Frauen bereits Ende Mai nach Haff- krug verlegt wurden, blieb die schwer an Tuberkulose er- krankte Ilonka Pfeffer allein zu- rück und starb am 1. Juli 1945 in der Heilstätte.

Der Leichnam wurde abseits des Massengrabes auf dem Al- ten Friedhof bestattet. Wahr- scheinlich war dies der Grund, warum Ilonka Pfeffer 1960 nicht exhumiert und umgebettet wurde, mutmaßt Dölger: „Das Einzelgrab war offenbar über- sehen worden.“ Die Verstorbe- ne fand also zweimal keine Be- achtung mehr. „Aber jetzt ist mit dem Vergessen endlich mal Schluss“, sagte Dölger.

Pastor Roland Scheel beton- te, dass es gerade in der aktuel- len Situation mit offen zur Schau gestelltem Antisemitis- mus notwendig sei, ein Zeichen für die Erinnerungskultur zu setzen. „Wir müssen die Ge- schichte wach halten; nicht um den Finger in die Wunde zu le- gen, sondern um daraus zu ler- nen“, sagte Scheel. „Die Ge- denktafel ist auch ein Mahn- mal.“

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PLÖN. In der hintersten Ecke des alten Plöner Friedhofs ste- hen acht schlichte Kreuze mit den Namen von Zwangsarbei- tern aus Polen und der Sowjet- union, die dort im Zweiten Weltkrieg beerdigt wurden. Neben diesen Gräbern enthüll- te die Plöner Kirchengemeinde nun eine Gedenktafel für die Jüdin Ilonka Pfeffer.

Der Text des kleinen Denk- mals erzählt das tragische Schicksal einer Frau, die das Konzentrations- und Arbeitsla- ger zwar überlebte, aber weni- ge Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Zwangsar- beit verstarb. Recherchiert wur- de die Geschichte von dem Plö- ner Historiker Dr. Karsten Döl- ger, der die Gedenktafel zu- sammen mit Pastor Roland Scheel vorstellte. „Es geht um ein Stück Erinnerungskultur“, erläuterte Dölger sein Engage- ment. So forschte er nicht nur im Plöner Stadtarchiv und den Bü- chern der Kirchengemeinde, sondern auch in den Online-Ar- chiven des Holocaustmuseums

ostholsteiner-zeitung-20.05.202130.pdf